Das Deutsche Volk mag ja am 23.05.1949 von allem möglichen beseelt gewesen sein. Etwa von Gedanken darüber, wo man Zigarretten herbekommen könnte, um sie gegen Lebensmittelmarken einzutauschen. Sich selbst ein Grundgesetz zu geben, gehörte ganz sicher nicht dazu, auch wenn es das Vorwort — das bei einem Gesetz prätentiös Präambel genannt wird — so behauptet:
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Tatsächlich haben die Regenten dem Volk bis heute vorenthalten, sich selbst eine Verfassung zu geben, obwohl dies Ausdrücklich im Artikel 146 GG verlangt wird, falls die Wiedervereinigung zustande kommt. Die Mauer fiel, die Vereinigung kam, die Treuhand hat die neuen Bundesländer abgewickelt und das Geld eingesteckt. Eine freie Entscheidung des deutschen Volks über eine Verfassung kam in 19 Jahren nicht.
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Das Volk hatte da noch nie mitzureden. Was in den Jahren 48 bis 49 geschah, war nicht mehr, als daß einige ausgesuchte Beamte von den Allierten genötigt wurden, übergangsweise ein Grundgesetz zu formulieren, was diese dann taten, indem sie die Verfassung der Weimarer Republik abschrieben und um die gröbsten Schnitzer bereinigten. Diesem Ursprung mag geschuldet sein, daß sich das Grundgesetz zumindest ganz vernünftig ließt.
In der DDR geschah vergleichbares und führte zu einem vergleichbaren Ergebnis. Das Grundgesetz der DDR sicherte seinen Bürgern zu, daß alle Staatsgewalt von ihnen ausginge. Auch ein Recht auf Arbeit war darin Bestandteil. Der praktische Nutzen dieses Gesetzes offenbarte sich am 17. Juni 1953, als Arbeiter dieses Recht in Anspruch nehmen wollten. 20.000 sovjetische Soldaten rückten mit Panzern an und beschossen die Demonstranten.
Bürgerrechte in Grundgesetzen sind nur solange etwas wert, wie allgemeiner Wohlstand herrscht. Werden die Zeiten rauher, verlieren sie schnell an Bedeutung. Dennoch entblödet sich Frank Müntefering nicht, zu fordern, das Volk solle sich mehr an der Demokratie beteiligen. Nur wie er sich das vorstellt, lässt er freilich offen. Die Petition gegen Internetsperren haben zwar mehr Bürger unterschrieben, als je eine andere in der deutschen Nachkriegsgeschichte, aber ein Aufhorchen der Politiker ist nicht zu bemerken.
In von Pathos nur so triefenden Elogen wird das Grundgesetz als die Ursache gefeiert, daß in Deutschland seit seinem Bestehen Frieden herrsch. Als wäre das nicht dem Umstand zu verdanken, daß der Kalte Krieg, und die Atomwaffen nie in der Lage gewesen wären, einen Krieg zu gewinnen. Das war selbst den Psychopathen aus Washington und Moskau klar. Das militärische Muskelspiel folgte der einfachen Regel, Aufrüsten bis einer der Mitspieler bankrott ist.
Ganz so friedlich ist Deutschland ja auch gar nicht. Immerhin führt es engegen dem Willen seiner Bürger Kriege. Sei es der Kosovo-Konfikt oder die vermeintliche Terroristenhatz in Afghanistan; in keinem Fall ging es um die Verteidigung des eigenen Landes oder wenigstens dessen eines NATO-Bündnispartners.
Es ist leicht zu verstehen, warum das Grundgesetz bei den Systemparteien so beliebt ist, sichert es ihnen doch die bequeme Stellung, daß die Wähler ihnen nicht ans Zeug flicken können. Wo es dennoch im Weg steht, können Sie es gefahrlos ignorieren, denn strafbewehrt sind solche Verstöße ja nicht.
Allein das Bundesamt für Verfassungsschutz könnte hier einschreiten, wenn etwa ein Innenminister Passagierflugzeuge abschießen lassen, die Streitkräfte auf die Bevölkerung loslassen und das BKA mit Befugnissen ausstatten will, wie sie die Staatssicherheit der DDR hatte. Da besteht diese Aufgabe des Verfassungsschutzes eben nur aus dem Papier auf dem die „Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden“ geschrieben stehen . In der Praxis bleibt dafür zu wenig Arbeitszeit. Schließlich hat der Verfassungsschutz genug zu tun, der NPD über seine V-Leute üppige Finanzhilfen zukommen zu lassen und Leute zu jagen, die Autos in Brand stecken, als hätten die Länder keine Dezernate für Brandstiftung.
Schwieriger zu verstehen ist, warum die Bürger vom Grundgesetz so überzeugt sind. Hat es die Unverletzlichkeit der Wohnung geschützt, als die Staatsanwaltschaften und die Polizei die Erlaubnis wollten, uns nächtens in unseren Wohnungen zu überfallen? Hat es uns davor geschützt, am Telefon abgehört zu werden? Hat es die Mobilfunkbranche davor bewahrt, in das zunächst abhörsichere System nachträglich teure Abhöhrschnittstellen einbauen zu müssen? Was bot das Grundgesetz neues an Sozialverpflichtungen, das nicht schon in der Weimarer Verfassung verankert war?
Die Anwort ist so simpel wie erschreckend: Das Grundgesetz hat unsere Rechte nicht geschützt. Das Grundgesetz ist nur ein Stück Papier. Bürger die Rechte wollen, müssen selbst dafür kämpfen. Immer wieder und in Krisenzeiten um so härter. Denn die Regierung wird sich damit nicht die Hände schmutzig machen — auch dann nicht, wenn sie zuvor in der Opposition gewohnheitsmäßig das Gegenteil behauptet hat.
„Happy Birthday, Schweinesystem!“