Der Lawinenpiepser und das Satelitennavigationsgerät sind verstaut. Die Schutzausrüstung ist verzurrt. Ich trinke mir in der Redaktion noch ein wenig Mut an. Dann geht es los.
Schon bei niedriger Blutalkoholkonzentration der Anfahrt habe ich Schwierigkeiten mit einfachen Aufgaben, wie zum Beispiel den Text eines Werbeplakats zu lesen.
Wie die Voluntäre bereits in spöttischer Weise vermuteten, war Gegenstand der ersten Untersuchung in der Tat die Hendlbraterei Ammer. Auf meine wohlmeindende Frage an das im hübsch herausgeputzten Biergarten befindliche Personal, „Hobt’s es scho‘ wos zum Ess’n?“, kam sogleich ein freundliches, „Nee, erst in ’na halben Stunde“ zurück. Merke: Berlinerinnen erkennt man gleich am zu weiten Dirndel.
Weil die lebensbedrohliche Fahrt in der Krinoline zum Abschluß erfolgen muß, um sicherzustellen, daß zumindest das zuvor entstandene Bildmaterial überlebt, nutze ich die Zeit, um ein wenig spazieren zu gehen und zu dokumentieren, daß auf dem größten Volksfest der Erde der Einsatz von Waffengewalt an der Tagesordnung ist.
Diese Veranstaltung ist nichts für Menschen mit schwachen Nerven. Zum Glück trage ich eine kugelsichere Weste und einen kevlarverstärkten Carbonfaserhelm mit Panzerglasvisier und komme mit ein paar blauen Flecken davon. Diesmal.
Das Oktoberfest ist im Übrigen ein einziger Sündenpfuhl und sollte von gottesfürchtigen Menschen gemieden werden, wie dieses Beispiel derben bayerischen Humors eindrucksvoll beweist.
Dennoch werden für die Besucher keine Kosten und Mühen gescheut, selbst Spezialitäten aus Übersee anzubieten. Hier vorwiegend aus dem Hause Phillip Morris, aber auch Seita aus Frankreich ist vertreten.
Es ist übrigens ein Vorurteil, daß die Bayern angeberisch veranlagt wären. Wie hier zu erkennen ist bezeichnet der Münchner befestigte Prachtbauten bescheiden als „Zelt“.
Die verkehrt herum aufgehängte Fahne einer weltweit für ihr abgestandenes Bier berühmten Brauerei lässt micht stutzen. Solch geschmacklose Scherze gelten in diesen Breiten als Sakrileg. Ein schlechtes Omen für den bevorstehenden Höllenritt? Ich beruhige mich nur geringfügig, als mir einfällt daß König Edmund I Staatstrauer angeordnet hat, weil er die Wahl verloren hat.
Mit etwas zittriger Hand gelingt es mir dennoch, ein erstes Höllengefährt bildhaft zu dokumentieren, das gerade neben mir entlangrast. Die extrem hohe Geschwindigkeit erzeugt zum Teil so starke Luftverwirbelungen, daß einzelne Steine aus dem Gleisbett herausgerissen werden und umherfliegen. Deshalb ist das Areal abgezäunt und wird von speziell ausgebildeten Sicherheitsfachgartenzwergen streng bewacht. Im hinteren Zugteil ist ein hartgesottener Testpilot der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA zu erkennen. Auf gerader Strecke kann dieses Geschoß auf Schienen Geschwindigkeiten von bis zu 6 Stundenkilometer erreichen. Nichts für mich.
Aber zum Glück hat der Ammer jetzt auf und die kulinarische Untersuchung kann beginnen. Ich setze mich auf den schönsten Platz des gemütlichen kleinen Biergartens und lasse mich vom goldenen Licht der Herbstsonne bescheinen.
„A hoibats Hend’l bringst ma bid’schön und a Weißbia dazua“, bestelle ich kennerhaft, bin aber nicht sicher, ob ich verstanden werde. Zumindest die Bedinung am Nebentisch scheint Australierin zu sein.
„Mogst an Kartoffe’salat a dazua? Kost‘ as Gleiche“, bekome ich zu hören und entgegne ermunternd, „Nimm i“. In den 43 Sekunden die ich auf das Weißbier warten muß, kommen die beiden Brezenverkäuferinnen jeweils dreimal vorbei und bieten mir viermal ihr Laugengebäck an. Schon wenige Minuten später haben sie sich aber an meinen stattlichen Anblick gewöhnt und patoullieren nun auch andere Gänge. Die eine von Ihnen vermag die Breze mit solcher Anmut neben ihren Kopf zu halten und dabei sanft lächelnd einen derart sehnsuchtsvollen Blick aufzusetzten, daß ich mich wirklich schwer bemühen muß, keinen Heißhunger auf Brezen zu entwickeln. Die Ankunft der dampfenden, duftenden, mit reichlich Petersilie gefüllten Vogelhälfte rettet mich. Das Tier ist sorgfältig zubereitet, die Haut ist knusprig, das Fleisch saftig, schmeckt sehr gut aber dennoch nicht optimal. Ich vermute eine Fehlernährung wärend der Aufzucht. Warum der Kartoffelsalat aktiv als Dreingabe offeriert wird mir schnell klar. Er besteht zu je einem Drittel aus Salatgurken, Kartoffeln und Mayonaise. Die Kartoffeln sind nicht ganz gar, auf Gewürze hat man anscheinend ganz verzichtet. Der war nicht mehr zu retten. Die 5 Kubikmeter die vermutlich davon in der Küche stehen müssen weg. Dringend. Die Mahlzeit und das Weißbier kosten übrigens einschließlich etwa 10 Prozent Trinkgeld 20 Euro.
Während ich den Biergarten verlasse beschließe ich, die etwas eigenartige Plastikverpackung der Freundin des bayerischen Hendelgrillers zur späteren Analyse abzulichten.
Ich atme tief durch und sauge den Duft von gebrannten Mandeln und Steckerlfisch ein, blicke über das Gelände und gehe festen Schrittes zur Krinoline. Dort werden bereits erste Vorbereitungen für den Start getroffen. Was nur scheinbar wie ein gewöhnliches Karussell aussieht, ist in Wahrheit eine hochempfindliches Apparatur, die normalerweise dem Belastungstrainung von Militärpiloten dient. Neben der Rotation um die Senkrechte führt die Plattform auf der die Sitze angebracht sind Pendelbewegungen aus. So ist auch der Name zu erklären. Krinoline nennt man den Reifrock, den die Damen früher unter ihrem Tanzkleid trugen. Der Bewegungsablauf entspricht dem des Reifrockes beim Walzertanz. Hier zu erkennen auf einem Archivbild des Betreibers.
Das Bodenpersonal erwartet bereits meine Ankunft und hat sich spontan auf der Treppe zu einem Begrüßungskomittee formiert.
Mit etwas wackeligen Beinen betrete ich die Plattform, gurte mich straff am Sitz fest und überpfüfe den Zustand meiner Schutzkleidung. Vor Bewustlosigkeit durch die enormen Kräfte soll mich Druckmanschetten an den Beinen schützen, die verhindern, daß das Blut aus dem Kopf in die Beine gepresst wird. Ich bin bereit. Doch plötzlich gibt es Probleme. Die Gewichtsverteilung stimmt nicht. Das Mission Controll Team hat einen Plan zur Umverteilung der Crew ausgearbeitet. Ich muß auf die gegenüberliegende Seite und werde allmählich nervös. Die erfahrenen Piloten im Sitz neben mir strecken ihre Daumen nach oben und lächeln mir zu. Ich werde etwas ruhiger.
Dann geht es los und mir wird kurz schwarz vor Augen. Dennoch gelingt mir aus nächster Nähe eine Aufnahme des teuflischen Räderwerkes (Hochgeschwindigkeitsturbine) während des laufenden Betriebes. Ich versuche mich von dem blümeranten Gefühl in der Magengegend abzulenken in dem ich an den Pulitzerpreis denke, der mir für diese einzigartige Aufnahme zustehen dürfte.
Ich schaffe es trotz der hohen Rotationsgeschwindigkeit und der damit verbundenen Vibrationen noch ein weiteres Bild zu schießen, daß den Blick nach außen zeigt. Dann verliere ich das Bewußtsein und erlange es erst wieder, nachdem die Bergungsmannschaft mich aus den rauchenden Trümmern befreit hat.
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